Verein für Heimatkunde Schwelm e.V.

Ein geheimnisvoller Ort ist der jüdischer Friedhof Schwelms, gelegen weit außerhalb des Stadtkerns in ländlicher Stille und Einsamkeit. Viele Schwelmer haben schon beim Spazierengehen einen Blick durch das eiserne, stets verschlossene Tor hineingeworfen. Lange Reihen von aufrechten Grabsteinen stehen da im Schatten dunkler Bäume, alle das Gesicht abgewendet und gerichtet nach Südosten, dem Heiligen Land zu. Von welchen Schicksalen mögen sie erzählen?

Die 86 erhaltenen Grabsteine des Friedhofs erzählen von 250 Jahren deutsch-jüdischen Zusammenlebens in Schwelm, mit Wohl und Wehe verteilt in gleichem Maß. Um 1776, als man diese Stätte anlegte, war die kleine jüdische Gemeinde Schwelms noch jung, erst hundert Jahre zuvor hatte sie sich aus Zugewanderten zu bilden begonnen. Die Gräber der Andersgläubigen wünschte die Stadt nicht in ihrer Nähe zu haben. Schließlich fanden die Juden diese Fläche eine halbe Fußstunde jenseits der Stadtmauer, damals noch im Wald gelegen und an unwirtlichem Hang.

Die ältesten Grabsteine stammen aus der Zeit, als die jüdische Gemeinde es mit Stolz zu einem eigenen Gotteshaus gebracht hatte, der Schwelmer Synagoge von 1819. Die Steine sind in Demut und Bescheidenheit vor Gott gestaltet, noch einheitlich nach der Tradition als hohe Stelen aus Sandstein, mit schmückendem Rundbogenabschluss. Das älteste Grab des Friedhofs ist von 1817, gewidmet Metzger Anschel Jakob. In Hebräisch liest man: „Sein Leib schläft in der Erde“. Und man versteht, warum die Totenruhe auf jüdischen Friedhöfen ewig währt. Die Begrabenen schlafen hier ihrer Auferstehung am jüngsten Tag entgegen.

Die späteren Steine erzählen von den Kultur- und Stilepochen ihrer Zeit, Historismus, Wilhelminismus, Expressionismus, Moderne. Es ist ein Faszinosum aller jüdischen Friedhöfe, dass sie auf engstem Raum die Kultur von Jahrhunderten spiegeln, säuberlich chronologisch geordnet. Lorbeerkranz und Dreiecksgiebel weisen auf die historisierende Lust an der Antike, Obeliskensteine auf das wilhelminische Repräsentationsbedürfnis, polierte Rechteckplatten auf den Minimalismus der Moderne. Bankier Herz Meyer wählte für sich und seine Frau imposante Steine in der Form gebrochener Säulen, einst als antikes Todessymbol gleichermaßen beliebt auf jüdischen wie auf christlichen Friedhöfen.

Mit fortschreitender Chronologie erzählen die Steine immer öfter vom Holocaust. Metzger Melchior Calmann kannte jede Hausfrau auf der Ostenstraße und war ein leibesfülliger Liebhaber des guten Essens. Seine Tochter Laura starb in Theresienstadt, vermutlich an Hunger. Artur Cohn war 1943 der letzte auf dem Friedhof Bestattete. An Tuberkulose erkrankt, wurde ihm ärztliche Hilfe verwehrt. Als seine Frau ihn begrub, war die umgebende Fläche bereits vollkommen verwüstet, kein einziger Grabstein stand mehr aufrecht. Bald nach seinem Tod sollte die Jüdische Gemeinde Schwelms endgültig ausgelöscht sein.

Nach dem Krieg übernahmen es Bund, Land, Stadt und Ehrenamtliche, den Friedhof wiederherzustellen und pflegend zu erhalten. In gutem Zustand fanden ihn im Frühjahr 2019 eine große Zahl von Besuchern, eingeladen zu Führungen durch den Verein für Heimatkunde Schwelm. Das überwältigende Interesse bestätigte dem Jüdischen Friedhof, eines der faszinierendsten Denkmäler der Stadt zu sein.

Marc Albano-Müller